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Unwetter in Brienz

Vom Ausnahmezustand zurück zur Normalität







Am 12. August 2024 verändert sich im idyllischen Brienz im Berner Oberland von einem Augenblick zum andern alles. Eine Gewitterzelle bleibt über dem Dorf hängen, der Starkregen nimmt nicht ab. Innert kürzester Zeit schwillt der Milibach an und löst einen Murgang aus, der Teile des Dorfs unter sich begräbt. Was bleibt, ist ein Bild der Zerstörung. Betroffene und Fachleute blicken zurück.



TEXT: etextera









12. August 2024

Das ist passiert

Quelle: SRF



Der Bach kommt

17 Uhr: Es ist ein ganz normaler Sommernachmittag in Brienz. Am See baden Familien im türkisblauen See, Tourist:innen machen Bilder von der Bergidylle des Berner Oberlands, die Brienz-Rothorn-Bahn dampft den Berg hinauf. 

18 Uhr: Der Himmel verfinstert sich, eine Gewitterfront kündigt sich an – wie so oft nach einem warmen Sommertag in den Bergen.

18.15 Uhr: Starker Wind kommt auf und es beginnt in Strömen zu regnen. Anders als bei anderen Gewittern hört der Starkregen jedoch nicht auf: Die Gewitterzelle bleibt über dem Dorf und dem Brienzer Rothorn hängen. Wolken versperren den Blick auf den Wasserfall – niemand sieht, wie dieser plötzlich anschwillt.

18.30 Uhr: Und dann kommt der Bach. Vier Wildbäche fliessen in Brienz steil vom Gebirge hinunter ins Dorf und dann in den See. Dieses Mal ist es der Milibach, der über die Ufer tritt. Mit einer Wucht, die im Dorf niemand erwartet hat: Der Wasserfall hoch über Brienz bringt Unmengen Wasser in den Milibachgraben. Bis die Flutwelle vom Wasserfall im Dorf ist, dauert es laut Dorfbewohner:innen rund 20 Minuten.

Der Bach zerstört das Dorf

18.35 Uhr: Der vormals kleine Bach frisst innert Minuten als donnerndes Gewässer eine metertiefe Schneise in den Boden und reisst Gesteinsbrocken so gross wie Einfamilienhäuser mit. 

18.40 Uhr: Der mächtige Bau des erst 2018 fertiggestellten und 3,5 Millionen Franken teuren Geschiebesammlers am Milibach ist in Kürze voll – der Murgang donnert Richtung Dorf. Die Stärke des Unwetters wird später als Ereignis, das nur alle 100 Jahre erwartet wird, eingestuft. Eigentlich sollte der Geschiebesammler das Dorf auch vor Jahrhundertereignissen schützen. Doch der Starkregen mobilisiert viel mehr Geschiebe, als man es bei dieser Wassermasse erwartet hatte.

18.45 Uhr: Die Feuerwehr ist vor Ort und evakuiert die verbliebenen Menschen aus ihren Häusern.

18.50 Uhr: Das Bahntrassee der regionalen Zentralbahn hat sich in ein Bachbett verwandelt. Der Bach fliesst durch den Zugtunnel bis zur Schiffländte auf der anderen Seite von Brienz und dort in den See. 

20 Uhr: Die Evakuierten bleiben in der Turnhalle. Das Sicherheitsaufgebot in Brienz ist immens: 800 Saniäter:innen und Ärzt:innen werden aufgeboten, zwölf Krankenwagen sind vor Ort stationiert, vier Rega-Helikopter kreisen über dem Dorf. Für den Fall, dass es viele Verletzte oder gar Tote gibt.

Der Tag danach

Endlich die beruhigende Nachricht: Es gibt keine Toten oder Schwerverletzten. Das Ausmass der Schäden an Gebäuden und Infrastrukturen ist jedoch riesig. Der Murgang beschädigte insgesamt 59 Häuser, 39 davon schwer.

Sperrzone – für 15 Minuten ins Haus

Das Gebiet rund um den Milibach wird zur Sperrzone erklärt. Bereits am Tag nach dem Ereignis dürfen die ersten Betroffenen für 15 Minuten zurück in ihre Häuser, begleitet von der Feuerwehr. 

Räumungsarbeiten beginnen

Ebenfalls einen Tag nach dem Ereignis beginnt die Gemeinde mit den Räumungsarbeiten. Sie will den Menschen Zugang zu ihren Häusern verschaffen. Um bei weiteren Niederschlägen einen erneuten Murgang zu verhindern, müssen zudem Geschiebesperre und Bachbett möglichst rasch von Steinen und Schotter befreit werden. Die GVB sichert der Gemeinde rasch und unbürokratisch die Finanzierung der gesamten Räumungsarbeiten zu.

GVB eröffnet Schadenbüro

Um die Menschen vor Ort möglichst rasch und unbürokratisch zu unterstützen, richtet die Gebäudeversicherung Bern (GVB) zwei Tage nach der Katastrophe ein temporäres Aussenquartier im Gemeindehaus ein. Sie berät die Betroffenen unkompliziert und persönlich zu Versicherungsleistungen an ihren Gebäuden.

Sperrzone wird zur Planungszone

Die Sperrzone wird am 7. Oktober 2024 aufgehoben und zur Planungszone erklärt. Die Betroffenen dürfen zurück in ihre Häuser, sofern diese noch bewohnbar sind. In der Planungszone herrscht Bauverbot: Wer für die Wiederherstellung seines Zuhauses eine Baubewilligung braucht, muss warten.





59 zerstörte Häuser

Die Betroffenen blicken zurück

  • Bild: Ruben Ung





Kilian Brunner steht etwas verloren in der urchigen Küche seines Chaletaltbaus in Brienz. Auf dem Regal steht einsam eine Bialetti-Kanne. Sie erinnert daran, dass diese Küche früher mit Leben gefüllt war. Mit dem Duft von frischem Essen und dem Plappern und Lachen seiner drei Kinder. Nun klafft dort, wo früher der Esstisch der Familie stand, ein riesiges Loch. Die Fenster sind schlammverschmiert oder geborsten. Die Wände eine stete Erinnerung daran, dass der Schlamm hier im August 2024 fast bis zu den Fenstersimsen reichte. Der Murgang des Milibachs hat das historische Gebäude bis zur Hälfte mit Felsbrocken und Geröll gefüllt. Der Bach drückte die Seitenwand des rund 300-jährigen Hauses ein, füllte die Mietwohnung im Erdgeschoss komplett mit Geschiebe, riss die kleine Werkstatt mit sich. Der erste Stock – die Küche der Familie Brunner – erlitt Totalschaden.



Bild: Ruben Ung



Heute rinnt der Bergbach wieder als Bächlein durch das neue, auf den ersten Blick viel zu tief gelegte Bachbett im Brienzer Dorfteil Änderdorf. Kilian Brunner sagt, das Plätschern des Bachs habe für ihn nach wie vor etwas Beruhigendes. Er wuchs in diesem Haus auf, der Bach war schon immer da. Er erzählt es besonnen und ohne Groll. Trotzdem: Es sei mit jedem Mal schwieriger, das zerstörte Haus zu betreten. Er schluckt leer. Seine Frau sage, er habe bisher alles verdrängt. Vielleicht hat sie recht.

Kilian Brunner führt durchs Haus und erzählt seine Geschichte. Wie er an jenem verhängnisvollen 12. August 2024 mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern beim Znacht sass, als ihn die Feuerwehr zu einem Einsatz rief. Nichts Ungewöhnliches: Es regnete in Strömen, ein Keller in Brienz war überflutet. Der damals 38-jährige Elektroingenieur rückte aus. Er war noch nicht lange im Feuerwehreinsatz, als er von seiner Frau erfuhr: Der Bach kommt. Innert Sekunden können Wildbäche zu regelrechten Flutwellen anschwellen und alles mitreissen, was sich ihnen in den Weg stellt. Sie fressen viele Meter tiefe Schneisen in die Landschaft und reissen dabei haushohe Steine und anderes Geschiebe mit ins Tal. Ein Murgang – schon wieder. Erst 2005 war der Glyssibach mitten in der Nacht angeschwollen und hatte einen Teil von Brienz mit sich gerissen. Zwei Personen starben.



Quelle: SRF



Während Kilian Brunner und seine Feuerwehrkolleg:innen zum neuen Einsatz ausrückten – noch ohne das Ausmass der Katastrophe zu realisieren –, sass Brunners Frau noch mit den Kindern beim Znacht. Sie erkannte die Gefahr jedoch rasch und brachte sich und die Kinder in Sicherheit. Dass sie das Haus für lange Zeit – vielleicht für immer – verliessen, wusste sie damals nicht.

Kilian Brunner erfuhr per Telefon, dass seine Liebsten wohlauf waren. Und dann funktionierte er. Er rettete an diesem Abend mit seinen Kolleg:innen mehrere eingeschlossene Menschen aus ihren Häusern. Die Feuerwehr evakuierte sie mit blossen Händen, mit dem Bagger oder mit dem Helikopter. Auf sein eigenes Haus hatte Brunner keine Sicht. «Ich ging davon aus, dass mein Haus nicht mehr steht. Aber das spielte in diesem Moment keine Rolle. Es ging um Menschenleben.»



Bild: Ruben Ung



Auch Alexandra Schild sah den Bach kommen. Die damals 48-Jährige, die wie Kilian Brunner im Änderdorf ein Haus besitzt, rannte zuerst mit ihren Nachbarinnen zum nahen «Brüggli», um das Naturereignis zu beobachten. Denn wenn die Flutwelle des Milibachs ins Dorf schwappe – dies passiere jeden Sommer ein- bis zweimal –, sei dies immer «ein Highlight». Sie erzählt, wie sich der Bach jeweils mit seinem typisch erdigen Geruch ankündige. Und dann komme das Wasser. Dass es so viel Wasser sein würde, damit hatte sie jedoch nicht gerechnet. Barfuss und nur mit dem Hausschlüssel und dem Handy in den Händen rannten die Frauen zur nahen Kirche, die erhöht über dem Brienzersee thront. Hier waren sie in Sicherheit. Sie sahen in Echtzeit, wie der Murgang das Sagigässli und dann den Friedhof überflutete. Nach wenigen Minuten erhielt Schild von der Feuerwehr die Nachricht: Das Gebiet um den Milibach werde evakuiert. Sie ging mit ihren Nachbarinnen in die Turnhalle. Ihre Katzen blieben im Haus zurück.



Bild: Ruben Ung



Während der Bach ganze Hausteile mit sich riss und das parallel zum See verlaufende Bahntrassee zu einem Flussbett verwandelte, kamen Rettungskräfte aus dem ganzen Kanton und darüber hinaus nach Brienz. Etliche Ambulanzen standen bereit, mehrere Helikopter kreisten über dem Dorf. In der Turnhalle blieb die Stimmung ruhig, die Kinder spielten, die Erwachsenen warteten.

Eine Woche lang durfte Alexandra Schild eine Ferienwohnung in Brienz nutzen. Danach zog sie mit ihren Katzen in den Vorgarten der Wohnung – in den Camper, den ihr jemand angeboten hatte. «Die Solidarität war riesig, das ganze Dorf rückte zusammen», sagt sie. Wer eine Ferienwohnung besass, stornierte die Buchungen und stellte die Wohnung Betroffenen zur Verfügung.

Auch Kilian Brunners Familie kam in einer Wohnung im Dorf unter. Bekannte brachten Kinderkleider, Spielsachen, Nahrungsmittel. Er sagt: «Alle waren froh, dass es keine Toten gab.» Ohne den neuen Geschiebesammler wäre es wohl nicht so glimpflich ausgegangen, glaubt Brunner. Auch die Tatsache, dass der Murgang nicht nachts passierte wie im Jahr 2005 beim Glyssibach, habe sicher geholfen. Diese Katastrophe habe die Brienzer:innen nachhaltig geprägt. Sie habe bei der Bevölkerung in Erinnerung gerufen, was die Vorfahren im Dorf ihren Nachkommen stets mitgegeben hatten: dass man sich von der Bergidylle rund um das schmucke Dorf am türkisblauen See nicht täuschen lassen dürfe.

Bild: Ruben Ung



Zurück ins Haus durften die Brunners bereits am Tag nach dem grossen Unwetter – für genau 15 Minuten. Die Haustüre war eingedrückt, der Eingang und das «Stübli» dahinter waren mit Schlamm und Steinen gefüllt. «Wir krochen auf allen vieren über Dreck und Steine in die Räume und holten das Wichtigste heraus: Pässe, wichtige Dokumente und die Stofftiere der Kinder», erzählt Kilian Brunner. Alles, was sich mehr als einen Meter über dem Boden befand und nicht umgeworfen worden war, war noch intakt. «Wir hatten Glück im Unglück und konnten viele Erinnerungsstücke retten.» Gleichzeitig wurde der Familie klar, dass sie nicht so schnell zurück in das Haus konnte, das sie seit 2019 bewohnte und erst zwei Jahre vor dem Ereignis von Brunners Eltern übernommen hatte: Der Murgang hatte Kilian Brunners Elternhaus zerstört.



Bild: Ruben Ung



Um die vielen Fragen der Betroffenen zu Schäden an ihren Gebäuden möglichst unkompliziert und zeitnah beantworten zu können, richtete die Gebäudeversicherung Bern (GVB) vor Ort ein Schadenbüro ein. «Die Leute waren enorm froh, sich vor Ort an uns wenden zu können», sagt GVB-Schadenexperte Marc Betschart. Er gab ihnen Auskunft über Versicherungsleistungen und Fristen und besichtigte gemeinsam mit den Betroffenen die beschädigten Häuser, sofern dies zum damaligen Zeitpunkt bereits möglich war (siehe Interview).



Vor Ort

Das temporäre Schadenbüro der GVB

  • Bild: Ruben Ung



Marc Betschart arbeitet seit 2010 bei der Gebäudeversicherung Bern (GVB). Seit 2023 leitet er die Abteilung Technische Kundenbetreuung. Zusammen mit den rund 130 Schätzungsexpert:innen kümmern sich die technischen Kundenbetreuer:innen darum, dass die Versicherungswerte der über 400'000 Gebäude im Kanton Bern stimmen, und beurteilen Schadenfälle vor Ort.

Marc Betschart war von Anfang an im temporären Schadenbüro der GVB in Brienz vor Ort und beriet betroffene Hauseigentümer:innen.



Bild: Ruben Ung



Marc Betschart, was war das Besondere am Unwetter in Brienz vom 12. August 2024?

Das Unwetter hat zwei ganz unterschiedliche Dimensionen gezeigt: Einerseits gab es im übrigen Berner Oberland rund 1'200 Schadenfälle – überwiegend Hagelschäden –, die meist rasch und standardisiert abgewickelt werden konnten. Andererseits kam es in Brienz zu vergleichsweise wenigen, aber äusserst komplexen Schadenfällen. Einige Gebäude waren komplett zerstört, das betroffene Gebiet wurde evakuiert und zur Sperrzone erklärt. Der Zugang war über Tage nicht möglich – für die Bewohnenden und für uns. Kurzum: Wir mussten in der Lage sein, die Masse an einfachen Fällen effizient abzuwickeln und gleichzeitig bei den komplexen Gebäudeschäden persönlich, kompetent und flexibel zu unterstützen.

Wie hat die GVB konkret reagiert?

Wir haben nach dem Ereignis vor Ort in Brienz ein Schadenbüro eingerichtet und auch den Privatversicherern Platz geboten. Viele Eigentümer:innen waren nach dem Ereignis verunsichert, suchten eine Unterkunft, mussten ihren Alltag neu organisieren. Es war uns wichtig, in dieser schwierigen Phase präsent zu sein und unkompliziert zu helfen. So hat die GVB beispielsweise die Kosten für die allgemeinen Räumungsarbeiten übernommen und so viele Eigentümer:innen finanziell entlastet – das wurde sehr geschätzt. Gerade in solchen Situationen zeigt sich: Die GVB ist für die Menschen da, wenn sie diese brauchen.

Was wissen wir heute über die Schäden in Brienz?

Es wurden insgesamt 196 Schadenmeldungen registriert, davon 59 in der heutigen Planungszone. Die Gebäude haben wir in drei Kategorien eingeteilt. Gebäude mit geringem Schaden, deren Schäden behoben und die wieder bewohnbar sind. Gebäude mit mittlerem Schaden waren zeitweise kaum bewohnbar, heute sind die Instandstellungsarbeiten weit fortgeschritten und oder gar abgeschlossen. 39 Gebäude weisen grosse Schäden auf, und einzelne sind nicht bewohnbar, teils einsturzgefährdet, müssen zurückgebaut und neu geplant werden. Hier bleibt die grosse Herausforderung für die Gebäudeeigentümer:innen: Viele Gebäude liegen in der sogenannten Planungszone. Solange die Schutzbauten rund um den Milibach nicht konkretisiert respektive umgesetzt sind, sind Instandstellungsarbeiten kaum möglich.

Was lernen wir aus diesem Ereignis für die Zukunft?

Wir sehen, wie wichtig es ist, Prozesse bei Standardschäden noch stärker zu automatisieren – damit wir im Ereignisfall Zeit haben für jene Fälle, die wirklich komplex sind. Und wir sehen: Es braucht vor Ort nicht nur gute Fachleute, sondern auch Mitgefühl und Flexibilität. Beides haben unsere Schätzungsexpert:innen in Brienz gezeigt – darauf bin ich stolz.





Marc Betschart im Interview bei «10 vor 10»

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Quelle: SRF







Da, wenns drauf ankommt.

Marc Betschart, Leiter Technische Kundenbetreuung bei der GVB





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Schadenmeldungen gingen nach dem Unwetter vom 12. August 2024 bei der GVB aus Brienz ein.



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beschädigte Gebäude befinden sich in der Planungszone.



0 Mio. Franken

beträgt die Schadensumme der beschädigten Gebäude in der Planungszone.

Wie weiter

Wiederaufbau oder Umzug?

  • Bild: Ruben Ung





Ob Kilian Brunner mit seiner Frau und den drei kleinen Kindern jemals wieder in sein Elternhaus einziehen kann, weiss er bis heute nicht zu 100 Prozent. Denn das Haus steht in jenem Korridor, der nach aktualisierter Gefahrenkarte bei einem erneuten Murgang erheblich gefährdet wäre. In dieser roten Zone gilt bis auf Weiteres ein Bauverbot. Die Familie Brunner und andere Anwohnende sind daher dazu gezwungen, zu warten und die Ungewissheit auszuhalten, während Gemeinde und Planungsteams mit Hochdruck daran sind, Lösungen auszuarbeiten. Sie verfolgen den Plan, den Milibach weiter westlich durch weniger stark besiedeltes Dorfgebiet umzuleiten, um den historischen Dorfkern vor künftigen Murgängen zu schützen.



Bild: Schwellenkorporation Brienz



Wird der Bach umgeleitet? Wie lange wird dies dauern? Sind vorgezogene Schutzmassnahmen möglich, die den Betroffenen in der roten Zone schon früher ermöglichen würden, ihr Haus neu zu bauen oder zu sanieren? Oder müssen sie das Haus aufgeben? Diese Fragen beschäftigten Kilian Brunner bis vor Kurzem tagtäglich. Die ganze Familie wolle zurück ins «Milibach-Haus», wie seine dreijährige Tochter das Haus liebevoll nenne. Angst vor dem Bach hätten sie nicht. «Es ist jedoch schwierig, mit der Ungewissheit zu leben», sagt Brunner – als Eltern hätten sie sich mehrmals die Frage gestellt, ob es nicht besser wäre, mit dem Geld der GVB anderswo zu bauen, statt jahrelang auf Wasserbaumassnahmen und Baubewilligungen zu warten. «Wir sind im Dilemma: Die Kinder sind jetzt klein – wir bräuchten Haus und Garten für unser Familienleben jetzt.» Müsste die Familie fünf oder gar mehr Jahre warten, bis sie das Haus am Milibach wieder aufbauen dürfte, wären die Kinder bereits gross.

Seit Dezember 2024 hat die Familie wieder mehr Hoffnung. Damals legte die Schwellenkorporation Brienz ihr Massnahmenkonzept vor und zeigte die Herausforderungen und Konsequenzen rund um das Umleitungsprojekt «BrienzWest» auf. Im vergangenen Mai informierten die Projektverantwortlichen die Bevölkerung zudem, dass in Ausnahmefällen, unter Auflagen und nach kantonaler Prüfung auch in der roten Zone wieder aufgebaut werden dürfe. «Diese Information kam für uns sehr überraschend», sagt Brunner. Zwar gelte dies aktuell nicht für sein Haus: «Wir müssen uns weiterhin gedulden, denn wir können erst wiederaufbauen, wenn klar ist, ob der Milibach tatsächlich umgeleitet wird.» Ist dies nicht der Fall, müsse er das Haus je nach Ausbau des aktuellen Bachbetts allenfalls aufgeben. Klarheit werde erst das Vorprojekt des Wasserbauplans bringen, sagt Brunner. Wenn alles gut laufe, könne seine Familie im Herbst 2026 eine Ausnahmebaubewilligung beantragen. «Das ist absehbar», sagt Brunner mit viel Optimismus. Er werde nun – trotz Risiko – anfangen, den Neubau zu planen. Damit seine Familie schon bald wieder ins «Milibach-Haus» einziehen kann. «Dann wird nach der Verlegung des Milibachs das Haus halt nicht mehr am Bach stehen. Das Plätschern des Wassers werde ich vermissen.»



Bild: Schwellenkorporation Brienz

Derweil sieht Alexandra Schilds Haus heute wieder aus wie vor dem Unwetter. Umsichtig dekoriert reiht sich das Chalet in den historischen Dorfkern, nur wenige Meter weit entfernt von der Schneise mit den verwüsteten Häusern entlang des Milibachs. Rund um ihr Zuhause ist vom Murgang nichts mehr zu sehen. «Die Katastrophe hat auch Chancen mit sich gebracht», sagt sie: «Ich durfte einen Teil meines Hauses neu gestalten. Und die Solidarität hat uns alle zusammengeschweisst.» Die nähere Nachbarschaft sei schon vorher gut gewesen. Doch heute sei der Kreis der Verbundenheit noch viel grösser und stärker.

Schilds Haus wurde von den Schlammmassen im Erdgeschoss nur mittelschwer getroffen. Sie durfte ihr Gebäude bereits wenige Monate nach dem grossen Unwetter ohne Baugesuch renovieren. Während die Häuser rundherum noch «gespenstisch dunkel» waren und auch die Strassenlampen noch nicht wieder leuchteten, zog Schild zurück in ihr Chalet und liess den Schlamm absaugen. Sie entsorgte Waschmaschine und Heizung und räumte den Stock aus, damit alles herausgerissen und saniert werden konnte. Eine Trocknungsanlage sorgte dafür, dass auch die Feuchtigkeit das Haus wieder verliess.

«Ich erhielt so viel Hilfe», sagt sie. Irgendwann sei der Zusammenbruch dann trotzdem gekommen. «Ich kam beim Renovieren emotional an meine Grenzen», erzählt sie. Sie sei überfordert gewesen, als Hausbesitzerin so viele Entscheidungen allein treffen zu müssen. «Irgendwann ging gar nichts mehr.» Doch Schild gehört nicht zu jenen, die jammern. Im Gegenteil – sie gehe Neues mit viel Neugier und einem grossen Urvertrauen an. Sie habe auch keine Angst vor dem Bach. Sie wisse, dass der Milibach bis zu seiner Umleitung die gleichen Gefahren mit sich bringe wie vor dem Unwetter – wenn nicht sogar noch grössere wegen des aufgelockerten Bodens unterhalb der Milibachfluh. Sie wisse auch, dass solch schwere Ereignisse aufgrund des Klimawandels häufiger würden. Doch dieses Risiko gehöre in den Bergen mit dazu. «In Brienz leben wir seit jeher mit der Gefahr der Bäche», sagt Schild. Man lerne, mit ihrer Schönheit und ihrer Gefahr zu leben. Und das Leben im Dorf trotzdem zu lieben.



  • Bild: Ruben Ung